Berufungsbegründung gegen das Urteil des LG Köln vom 01.07.2025 (Az. 5 O 220/23)

Die tatsächliche „Grundrechts-Schranke“:
Wenn die Kirche Grundrechte ihrer Priester durch kirchliche Regeln einschränkt, muss sie auch die rechtlichen Konsequenzen aus dem Verhalten dieser Personen tragen – auch im privaten Bereich, sofern dieser kirchlich reglementiert oder durch das Amt ermöglicht ist.
Relevante Canones (Rechtsgrundlagen aus dem CIC):
⚖️ Canon 277 §1 CIC – Zölibatsverpflichtung
„Die Kleriker sind verpflichtet, eine vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen zu wahren und sind deshalb zur Ehelosigkeit verpflichtet.“
➡ Die Kirche verpflichtet Priester zum Verzicht auf Ehe, Sexualität und Familie – ein massiver Eingriff in das Privatleben.

⚖️ Canon 273 CIC – Gehorsamspflicht gegenüber dem Bischof
„Die Kleriker sind kraft heiliger Weihe zur Ehrfurcht und zum Gehorsam gegenüber ihrem Ordinarius verpflichtet.“
➡ Das umfasst auch Lebensentscheidungen, Aufenthaltsort, Lebensstil etc.
➡ Priester leben nicht autonom, sondern unter kirchlicher Disziplinargewalt.

⚖️ Canon 282 §1 CIC – Lebensführung
„Die Kleriker sollen ein einfaches Leben führen und sich irdischer Güter enthalten, die mit ihrem Stand unvereinbar sind.“
➡ Auch das private Verhalten und Eigentum wird reglementiert.

Berufungsbegründung an das OLG Köln – AZ: Az. 5 O 220/23

  1. Einleitung

Gegen das Urteil des LG Köln vom 01.07.2025, Az. 5 O 220/23, wird hiermit Berufung eingelegt. Die Klägerin greift das Urteil in vollem Umfang an und beantragt dessen Aufhebung sowie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 830.000 €.

Die Begründung des LG Köln, der wegen schwerem sexuellem Missbrauch verurteilte Priester habe „mehr oder weniger als Privatperson“ gehandelt, ist rechtsfehlerhaft. Sie blendet die strukturelle Einbindung des Täters in das System der katholischen Kirche aus und verkennt sowohl die Zurechenbarkeit von Amtsträgerhandlungen als auch die institutionelle Schutzpflicht des Erzbistums Köln.

  1. Berufungsgründe
  2. Unzutreffende Trennung von Amt und Privatperson

Das Landgericht stellt zu Unrecht auf eine Trennung zwischen Amt und Privatperson ab, obwohl die katholische Kirche selbst das Leben ihrer Priester tiefgreifend reguliert. Insbesondere durch:

  • den verpflichtenden Zölibat (Can. 277 CIC),
  • das Gehorsamsversprechen gegenüber dem Bischof (Can. 273 CIC),
  • sowie die umfassende Lebensführungspflicht (Can. 282 CIC)

… wird das gesamte Privatleben eines Priesters kirchlich bestimmt. Das bedeutet: Ein Priester handelt nie rein „privat“, da seine soziale und rechtliche Stellung durch sein Amt geprägt ist. Er ist aus Sicht der Kirche – und erkennbar auch für Dritte – dauerhaft Repräsentant seines geistlichen Amtes.

Die Adoption der Klägerin als Pflegekind geschah nicht losgelöst vom Amt, sondern im Kontext einer seelsorgerlich geprägten Vertrauensbeziehung. Die Tat war daher keine private Handlung im engeren juristischen Sinn, sondern Ausdruck eines durch kirchliche Strukturen ermöglichten Machtmissbrauchs.

  1. Zurechnung über funktionale Amtsidentität

Auch wenn der Missbrauch nicht während einer kirchlichen Amtshandlung stattfand, ist er dem Erzbistum funktional zuzurechnen, da der Täter seine Stellung als Priester – samt Autorität, Unantastbarkeit und Nähe zum Opfer – aus eben diesem Amt bezog.

Die herrschende Rechtsprechung erkennt in vergleichbaren Kontexten (z. B. Schule, Heim, Sportvereine) eine funktionale Amtsidentität an, wenn:

  • das Opfer dem Täter durch die Institution zugeführt wurde,
  • der Täter seine Autorität aus der Institution ableitet,
  • und die Tat innerhalb eines durch das Amt ermöglichten Vertrauensverhältnisses begangen wurde.

All dies trifft im vorliegenden Fall zu.

  1. Verletzung institutioneller Schutzpflichten durch das Erzbistum

Das Erzbistum Köln hat durch die Beauftragung, Weihe und lebenslange Einbindung des Täters eine besondere Fürsorge- und Kontrollpflicht gegenüber Schutzbefohlenen begründet.

Unabhängig von einer „Kenntnis im Einzelfall“ ergibt sich die Pflicht zur Prävention auch aus dem jahrzehntelang bekannten systemischen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche. Seit Veröffentlichung der MHG-Studie (2018) und weiteren Gutachten war der Kirche bekannt, dass Priester regelmäßig ihr Amt missbrauchen, um Zugang zu Minderjährigen zu erhalten.

Ein Nichthandeln des Erzbistums – z. B. keine Risikobewertung, keine Supervision, keine Kontrolle von Pflegschaften – begründet ein eigenständiges Organisationsverschulden (§ 823 Abs. 1 BGB analog, i. V. m. § 832 BGB analog).

  1. Grundrechtsverletzung – Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG

Die angegriffene Entscheidung führt dazu, dass für das schwerwiegende, anhaltende Unrecht keine Institution haftet – trotz des nachgewiesenen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen durch einen kirchlichen Funktionsträger. Damit bleibt das Opfer schutzlos.

Dies verletzt die durch das Grundgesetz garantierte Menschenwürde der Klägerin (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie ihr Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG). Staatliche Gerichte dürfen strukturelle Machtverhältnisse nicht verharmlosen, indem sie eine enge Definition von Amtspflichten anwenden, wo tatsächlich eine dauerhafte Autorität mit öffentlicher Wirkung ausgeübt wird.

5. Fehlende Trennbarkeit von Amt und Privatleben bei katholischen Priestern

Die Argumentation des Landgerichts, wonach der Täter „mehr oder weniger als Privatperson“ gehandelt habe, verkennt die institutionelle Realität des Priesteramts in der römisch-katholischen Kirche.

Ein katholischer Priester ist nicht lediglich im Rahmen seiner liturgischen Funktionen Amtsträger, sondern lebt dauerhaft in einer kirchlich geregelten Lebensform, die sowohl sein berufliches als auch sein privates Verhalten umfasst. Dies zeigt sich insbesondere am:

  • verpflichtenden Zölibat (Canon 277 CIC),
  • Gehorsamsversprechen gegenüber dem Bischof (Canon 273 CIC),
  • und der Verpflichtung zu einem dem priesterlichen Stand angemessenen Lebensstil (Canon 282 CIC).

Die katholische Kirche macht damit selbst keine Unterscheidung zwischen dienstlicher und privater Sphäre. Das Zölibat greift direkt in das Privatleben ein – bis hin zur Gestaltung von Wohnen, Freizeit, Beziehungen und Sexualität.

Wer das Privatleben eines Priesters religiös-normativ reglementiert, kann sich später nicht auf eine „Privatsphäre“ im haftungsrechtlichen Sinn berufen, wenn genau dieses reglementierte Umfeld Tatgelegenheiten schafft oder Missbrauch begünstigt.

Der Täter ist nicht einfach „als Privatmann“ tätig geworden – er konnte die Klägerin nur deshalb in seine Nähe bringen und über Jahre kontrollieren, weil er priesterliche Autorität genoss, im Namen der Kirche auftrat und durch seine Stellung als Seelsorger und moralisches Vorbild überhöht wurde.

In dieser Konstellation liegt eine untrennbare funktionale Verknüpfung zwischen Amt und Handlung vor – unabhängig davon, ob die Tat im häuslichen oder institutionellen Rahmen stattfand. Damit ist auch die zivilrechtliche Haftung der Institution nicht ausgeschlossen.

6. Grundrechtsgebundene Verantwortung der Institution Kirche

Die katholische Kirche verpflichtet ihre Priester, dauerhaft ehelos zu leben (Can. 277 CIC), sich dem Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie zu unterwerfen (Can. 273 CIC) und ein Leben zu führen, das dem Stand eines Klerikers entspricht (Can. 282 CIC). Damit gestaltet die Kirche selbst das Privatleben ihrer Amtsträger im Detail.

Wer das Privatleben umfassend regelt, übernimmt auch Verantwortung dafür.

Diese kirchliche Einflussnahme stellt eine Grundrechts-Schranke dar, bei der die Trennung zwischen Amt und Privatperson entfällt: Die Kirche kann sich nicht gleichzeitig auf das „Private“ des Täters berufen und sich gleichzeitig dort umfassend einmischen.

Die Berufung auf ein „privates“ Verhalten ist daher widersprüchlich und unterliegt verfassungsrechtlich einem strengen Maßstab an institutioneller Verantwortung gegenüber Dritten (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 140 GG / Art. 137 Abs. 3 WRV).

 

III. Ergebnis und Antrag

Die Klägerin beantragt,

  1. das Urteil des Landgerichts Köln vom 01.07.2025 (Az. 5 O 220/23) aufzuheben;
  2. das Erzbistum Köln zu verurteilen, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 830.000 € zu zahlen;
  3. hilfsweise: die Sache zur erneuten Verhandlung an das LG Köln zurückzuverweisen;
  4. der Beklagten die Kosten beider Instanzen aufzuerlegen.
  1. Beweisanregung

Zur Klärung der institutionellen Einbindung des Täters wird beantragt:

  • die kirchliche Personalakte des verurteilten Priesters beizuziehen;
  • vorhandene Gutachten (z. B. MHG-Studie, unabhängiger Bericht Erzbistum Köln) als Beweismittel zu würdigen;
  • Sachverständige zu institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen bei Klerikern und Pflegekindern anzuhören.

[Ort, Datum]
[Name der anwaltlichen Vertretung / Unterschrift]

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